Nur Natur?
Einführungsrede zur Ausstellung „Nur Natur?“ in der Kunstmühle Mürsbach,
anläßlich der Eröffnung der BBK-Ateliertage „Artur 23“, Freitag, den 18.September 2020, 18:30 Uhr
Über die diesjährig zum 23. Mal stattfindenden Tage des offenen Ateliers des Berufsverbandes Bildender Künstlerinnen und Künstler Oberfranken und über deren Ausstellungsreihe „Artur“ möchte ich an dieser Stelle gar nicht viel sagen – nur dies: Corona hat viele Ausstellungsvorhaben in ihrer Planung gehörig durcheinandergebracht und dem Kunst- und Kulturbetrieb in Gänze erheblichen Schaden zugefügt. Manch Einem, der nicht gerade irgendwelchen Verschwörungstheorien anhängt, stellt sich die Frage, ob die Natur angesichts jahrzehntelangen umweltzerstörerischen Treibens der Menschen jetzt möglicherweise zurückschlägt.
„Nur Natur?“ – der Ausstellungstitel, den die Betreiber der Kunstmühle Mürsbach und die hier vertretenen Künstlerinnen und Künstler gewählt haben, stand schon lange vor Ausbruch des Covid-19-Virus fest. Im Nachhinein kommt er uns beinahe wie eine Vorahnung vor – doch war er ursprünglich keineswegs als kritische Auseinandersetzung mit Corona und seinen Folgen gemeint. Die Fokussierung der vorliegenden Ausstellung auf das Problem „Natur“ spiegelt vielmehr das gesteigerte Interesse der Kunstschaffenden an solchen Themen wie Umwelt, Fauna und Flora und Nachhaltigkeit wieder und zugleich das gesteigerte Interesse der Breitenbevölkerung an der Bewahrung des Ökosystems „Erde“ und an dem Schutz ihrer makro- wie mikrobiologischen sowie ihrer ursprünglichen physikalischen und chemischen atmosphärischen Zusammenhänge.
Die hier gezeigten Arbeiten fragen allerdings nicht nur nach dem Bedrohtheitsgrad unserer Umwelt, nicht nur nach der Ästhetik des Naturschönen oder nach entwicklungsgeschichtlichen Geheimnissen der Natur, sondern sie fragen auch und gerade nach dem Beziehungsverhältnis des Menschen zu seiner realweltlichen Umgebung und danach, wie die Erscheinungen der Natur auf uns wirken, wie wir, wenn wir uns ins Freie begeben, die Welt um uns herum wahrnehmen.
Die Dichotomie von phänomenologischer Erscheinungswirkung und kognitiver Rezeption findet sich ganz trefflich auf den Arbeiten von Gerhard Schlötzer veranschaulicht, dem ersten Vorsitzenden des BBK Oberfranken und prominenten Teilnehmer der Ausstellung hier in der Kunstmühle Mürsbach. Seine fotografische Serie „Baum im Raum“ zeigt als zusammengesetzte Bilder altgewachsene knorrige Bäume, die in ausgewiesenen Naturschutzgebieten ohne menschliches Zutun dem Wildwuchs und dem unberührten Werden und Vergehen ausgesetzt sind. Dabei definiert Schlötzer das „Ökosystem Wald“ als standortangepassten, über Jahrhunderte hinweg autonom sich entwickelnden „Superorganismus“ und als „Lebensraum für tausende Arten von Kleinstlebewesen […], wenn der Mensch sie in Ruhe lässt“. Das wäre gewissermaßen der phänomenologische, man könnte auch sagen der „dokumentarische“ oder „umweltpolitische“ Aspekt seiner Arbeiten.
Die Aufnahmen von Gerhard Schlötzer haben jedoch darüber hinaus eine weitere inhaltliche Dimension, nämlich die der Wahrnehmungsleistung des Betrachters und seine geistige Arbeit sowohl beim Anschauen und Erinnern von Naturerlebnissen als auch beim Betrachten der zusammengesetzten Bildwerke. Bleiben wir zunächst bei der Wahrnehmung von Bäumen in freier Natur und ihrer raumgreifenden Entfaltung: Tatsache ist, daß wir unsere Umgebung akustisch und olfaktorisch in aller Regel dreidimensional wahrnehmen. Optisch hingegen setzt sich unsere räumliche Wahrnehmung aus der Summe von unendlich vielen Detailansichten zusammen. In der Psychologie spricht man von „sukzessiver Wahrnehmung“, die sich, ggf. interessensgeleitet, auf bestimmte Ausschnitte aus der sichtbaren Wirklichkeit konzentriert – je näher wir an das zu betrachtende Objekt herantreten, desto feingliedriger. Eben diesen Prozess, die Summe aller Detailansichten in unserem „inneren Auge“, also als Arbeitsleistung unseres Gehirns, sprich „kognitiv“ zu einem kohärenten Ganzen zusammenzuführen und dadurch das vorab in vereinzelten Detailansichten Geschaute schließlich als Ganzheit zu begreifen, ist Thema dieser fotografischen Arbeiten.
Kunst heißt „das Unsichtbare sichtbar machen", wie Paul Klee es einmal formulierte, ich möchte sagen „das Unbewusste bewußt machen“. Damit sind wir bei einem dritten Aspekt der hier gezeigten Fotoarbeiten von Gerhard Schlötzer angelangt: nämlich bei dem Aspekt der Wahrnehmung eines Kunstwerks, das sich aus einzelnen Ansichten ein und desselben Gegenstandes additiv zusammensetzt und am Ende gleichfalls als einheitliches Ganzes erscheint. Wir kennen diesen Ansatz in anderen Gestaltungszusammenhängen aus dem Kubismus. Was Schlötzer hier unternimmt, ist im Prinzip etwas ganz Ähnliches: nämlich einen dreidimensionalen Bildgegenstand (im vorliegenden Fall: raumgreifende Bäume) zunächst in Detailansichten aufzulösen und anschließend wieder so zusammenzufügen, daß er in seiner gesamten Erscheinung schließlich vollumfänglich im Bild zu sehen ist. Es geht bei den hier ausgestellten Fotoarbeiten von Gerhard Schlötzer also um De-Konstruktion und Re-Konstruktion der sichtbaren Wirklichkeit, zugleich aber auch darum, uns die Abläufe des prozessualen Sehens bewußt zu machen und über die Bildbetrachtung zu lernen, wie unsere Wahrnehmung eigentlich funktioniert. Sehr komplex, diese Fotoserie: thematisch ausgesprochen vielschichtig und inhaltlich sehr umfangreich.
„Wald“ und „Bäume“ sind auch das Thema der Arbeiten von Claudia Hölzel aus Schauenstein bei Hof. Die gebürtig aus Freiburg stammende Textilkünstlerin greift ihre subjektiven sinnlichen Eindrücke von Laubbäumen, Gräsern und Moosen, von Lichtreflexen auf kleinen Teichen oder von Sonnenstrahlen auf Waldböden auf und verarbeitet sie zu textilen Wand- oder Standobjekten, deren gelbliche, bläuliche oder bräunliche grüne Farben tages- und jahreszeitenabhängige Lichtstimmungen der jeweiligen Naturerlebnisse ebenso wiedergeben wie deren gestaltrhythmische Strukturen. In diesem Sinne handelt es sich bei den Bildobjekten von Claudia Hölzel natürlich nicht um wirklichkeitsgetreue Abbilder, sondern um die ins Abstrakte transponierte Schilderung subjektiver Sinneseindrücke, die die Künstlerin auf ihren Wanderungen durch Wald- und Flurlandschaften zuvor unmittelbar vor Ort gewonnen hat.
Geschaffen werden diese Objekte aus unterschiedlichen Stoffen, dicht gewoben oder feinmaschig, die teils mit Acrylfarben bemalt und in Faltungen, Schichtungen oder mit gerissenen Kanten zu reliefartigen bzw. plastischen Werken verarbeitet werden. Die rechtwinklig eingepassten farbdifferenzierten Felder der Serie „Waldstück“ beziehen sich auf die Parzellierung wirtschaftlich genutzter Waldflächen, die monochromen Farbverläufe der Serie „Wald“ reflektieren die wechselnden Pflanzenfarben im Ablauf der Jahreszeiten, die Serie „Waldspaziergang“ gibt farbliche Eindrücke von Lichtspiegelungen auf Waldböden oder Wasseroberflächen wieder. Es geht auf den Arbeiten von Claudia Hölzel um sich verändernde Farbwerte in der Natur als sichtbarem Ausdruck von prozessualen Abläufen des Werdens und Wachsens sowie, in letzter Konsequenz, des Welkens und des Vergehens.
Einen demgegenüber deutlich anderen Ansatz vertritt Cornelia Morsch aus Kulmbach mit ihren handwerklich ganz vorzüglich ausgeführten Zeichnungen in Farbstift und Graphit auf Papier, auf denen die Künstlerin motivische Versatzstücke aus der Natur zu surrealen Gebilden zusammensetzt: zu phantastischen Luft- oder Wasserschiffen, zu märchenhaften Türmen und Fabelwesen, die nach genauerem Hinsehen aus verdorrten Ästen, Schneckenhäusern oder Fischen und dgl. bestehen. Eindrucksvoll ist auch ihre Serie von Quitten, deren naturalistisches Farbenspiel ebenso faszinieren wie die getreuliche Wiedergabe ihres runzligen Oberflächenreliefs. In den kühlen Farben des Nordens dann ihre „blaue Serie“ mit windbewegten Gräsern und Trockenpflanzen.
Natur (bzw. dingliche Gegenstände aus der Natur) versteht Cornelia Morsch als Ausgangsreiz – als motivischen Impuls sozusagen, der ihre Phantasie, und im Nachgang gleichermaßen die Phantasie des Betrachters, beflügelt und zu lyrischen Fiktionen inspiriert. Diese Fiktionen lässt die Künstlerin mit fein gespitzten Zeichenstiften vor den Augen des Betrachters sichtbare Wirklichkeit werden – zu veristisch wiedergegebenen Bildwelten: als szenische Objektivationen abgeleitet aus der dinglichen Wirklichkeit, ikonographisch indes ideenreich verselbständigt durch thematische Assoziationen fern der realen Gegebenheiten um uns herum. Der Phantasie der Künstlerin scheinen dabei keine Grenzen gesetzt.
Kommen wir als Letztes auf die druckgraphischen Arbeiten von Peter Schoppel aus Gundelsheim bei Bamberg zu sprechen: auf seine Kaltnadelradierungen aus der Serie „Richtungswechsel“, alternativ betitelt als „Tales from Paradise“ (Erzählungen aus dem Paradies). Was ist damit gemeint? Nun, Richtungswechsel, so Peter Schoppel, begleiten uns unser ganzes Leben lang. Sie führen uns vorbei an „Motiven aus dem Garten Eden“ [gemeint ist: vorbei an der Natur] und von den Anfängen unseres Werdens über unser Verwurzeltsein im Leben bis hin zum Vergehen unseres irdischen Seins auf einem vorherbestimmten Weg hinein ins himmlische Paradies. Dieser Weg verläuft natürlich in den seltensten Fällen gradlinig. Stattdessen ist er geprägt von mehr oder weniger zahlreichen Irrungen und Wirrungen und: von Richtungswechseln. Was Schoppel auf seinen Bildern versucht ist, die Vorgänge der realen Welt und deren phänomenologische Erscheinungsformen zu hinterfragen und mittels gerasterter Schemata zu ordnen. Das ist ein fast schon wissenschaftlicher Ansatz. Nicht umsonst bezeichnet Schoppel seine Werke als zeichnerische Umsetzung eines bildnerischen Forschungsprozesses, ja als Dokumentation einer, wie er sagt, „ästhetischen Arbeit“.
Gezeigt werden in Quadratstrukturen gegliederte Motiv- und Formzusammenhänge und deren Ordnung. Dabei kommt es zu einem Dialog zwischen Regelmäßigkeit und Chaos, symbolisch für den Dialog zwischen Natur und Technik. Schoppel spricht an dieser Stelle übrigens ganz bewußt von „Dialog“ und nicht von „Kontrast“, denn Natur und Technik können durchaus als Korrelation miteinander in Zusammenhang stehen. Charakteristisch für die gegenübergestellten Elemente aus den vermeintlich dichotomen Bereichen „Natur“ und „Technik“ ist deren gestalterische Reduktion auf kardinale Grundformen – eine Reduktion, die durch radikales Weglassen erfolgt, durch das konsequente Aussparen aller überflüssigen Details, bis am Ende nur noch ganz einfache Pattern übrigbleiben, deren systemische Strukturen schließlich ein in sich funktionierendes ästhetisches Ganzes bilden. Das erinnert uns natürlich an den Begriff der Abstraktion, der, aus dem Lateinischen abstrahere abgeleitet („wegnehmen“), ursprünglich nichts Anderes meint als die formfarbliche Rückführung der sichtbaren Wirklichkeit auf die Grundformen Dreieck, Rechteck und Kreis in den reinen Farben Gelb, Rot und Blau sowie den sog. „Nicht-Farben“ Schwarz und Weiß.
Zuweilen geschieht es, daß auf den Radierungen von Peter Schoppel florale Motive, seien es nahansichtig gesehene Blumen oder seien es Ausschnitte von Gemüsegewächsen, Versatzstücke aus dem Garten Eden mithin, unter digitalen Pattern hervorschimmern. Natur bricht sich allen digitalen Einengungen zum Trotz die Bahn und hat, wie es scheint, als Hinweis auf das Paradies für ewige Zeiten Gültigkeit unter dem ephemeren Gerüst der sie überlagernden Technik.
Besonders beeindruckt hat mich Blatt Nr. IV. Dort wechseln, lange vor der Covid-19-Pandemie entstanden, abstrakte Ornamente und Kreuzformationen mit koronaren Zellen, die zwar alles andere als bedrohlich wirken und stattdessen mit ihren zentrifugalen Strahlen wie mikrobische Zellentierchen aus einem parallelen Universum anmuten, aus heutiger Sicht jedoch wie eine thematische Vorwegnehme dessen erscheinen, was uns dieser Tage so dramatisch beschäftigt.
Auch diese strahlenkranzförmigen Einzeller sind: Natur! „Alles Natur“? Ja: Gewiß nicht alles, aber halt doch Vieles, das uns umgibt, ist Natur oder steht zumindest mittelbar in Zusammenhang mit natürlichen Ablaufprozessen. Uns dies zu vergegenwärtigen, unsere Wahrnehmung zu sensibilisieren, räumliche Gegebenheiten in der Natur erlebbar und nacherlebbar zu machen, uns des Naturschönen bewußt zu werden, seiner prozessualen Wachstums- und Vergehensabläufe, auch des ewig Gültigen der Natur, ihres Sinnstiftenden und ihrer inspirierenden Kraft – all dies und Vieles mehr sind Aspekte der vorliegenden Ausstellung.
Die Inhalte der hier gezeigten Arbeiten zu ergründen, aber auch weitere Ateliers im Rahmen der Reihe „Artur 23“ zu besuchen und die dort vorgestellten Werke vielleicht unter dem Blickwinkel „Alles Natur?“ zu betrachten ist das Anliegen der heutigen Ausstellung in der Kunstmühle Mürsbach.
Auf Eines möchte ich abschließend noch gerne hinweisen, und das liegt mir sehr am Herzen: Corona hat viele Kunstschaffende in arge wirtschaftliche Not gebracht. Andererseits haben Viele, die während des Shutdowns zuhause bleiben mussten, festgestellt, wie kahl doch ihre Wände sind, oder wie langweilig es ist, sie mit profanen Postern oder albernen Wand-Tatoos zu schmücken. Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie gerne einladen, sofern Ihnen das ein oder andere Werk besonders gut gefällt, es käuflich zu erwerben. Sie unterstützen damit nicht nur kunstschaffende Menschen in ihrer segensreichen und wertvollen Tätigkeit, sondern Sie tun damit zugleich auch sich selbst etwas Gutes.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen nun, meine sehr geehrten Damen und Herren, eine spannende Begegnung mit den hier gezeigten Werken, der Ausstellung für ihren weiteren Verlauf viele interessierte Besucherinnen und Besucher und dem Projekt „Artur“ auch diesmal wieder (und allen Widrigkeiten zum Trotz:) einen guten Erfolg.
© 2020 Dr. Matthias Liebel (Kunsthistoriker), Bamberg