Digital Detox
Anmerkungen zu Ortwin Michl
Von Professor Dr. Bernd Goldmann
In der Liste der Ausstellungsbeteiligungen des in Fürth lebenden Malers Ortwin Michl findet sich ein Titel „Vom Informel zur Gegenwart“. Diese Ausstellung fand 2013 statt. Ich kenne ihren Inhalt und die Namen der beteiligten Künstler nicht. Das ist auch nicht weiter wichtig, allein die Kombination der Begriffe ließ mich aufhorchen.
Natürlich verbinden wir mit dem Begriff des Informell die Erinnerung an die legendäre Quadriga und an die Zimmergalerie in Frankfurt am Main. Die Bilder dieser aus vier Künstlern, nämlich Bernhard Schulze, Karl Otto Götz, Otto Greis und Heinz Kreuz, bestehenden Gruppe waren Begriff und Schule bildend. Sie hatten vieles gemeinsam und waren dennoch sehr unterschiedlich in ihren Darstellungsweisen und Techniken.
Alle vier waren auf ihre Weise Wegbereiter, weil sie den Künstlern der Nachkriegszeit eine neue, andere Richtung wiesen. Wenn die Zeit der Einengung und Reglementierung der Kunst auch nur 12 lange Jahre dauerte, dauerte sie zu lange und dennoch gab es verborgene Entwicklungen. Die Möglichkeit eines Ausblicks in die Kunstmetropolen, vor allem Paris, war nur wenigen Künstlern vergönnt. Es bestand Hunger nach der Auseinandersetzung mit Kollegen, und die Künstler, sie nannten sich die verlorene Generation, hatten Nachholbedarf.
Wie selbstverständlich orientierten sie sich nach Paris und dort beispielsweise an der „Art informel“, die in Deutschland Tachismus oder abstrakter Expressionismus genannt wurde. Sie galten als modern, wurden bewundert und gelobt, sie wurden andererseits bekämpft und verachtet. Wenn wir an die Fauves denken, keine singuläre Erscheinung.
Was aber vielleicht in besonderer Weise zu beobachten ist, dass die Zahl der Künstler, die sich in diese Tradition gestellt hat, bis heute nicht nachgelassen hat. Damit erreichen die Vertreterinnen und Vertreter des Informel die Gegenwart und sollten, nein müssen sich stets neu erfinden.
Dies als kleinen Exkurs zur Verdeutlichung der Stellung, in der der Maler und Lehrer Ortwin Michl steht. Geboren wurde er 1942 in Marienbad. Marienbad ist ein besonderer Ort, der viele Persönlichkeiten angeregt hat. Hinzuweisen ist nur auf Richard Wagner, der hier zwei Opern skizzierte, nämlich „Lohengrin“ und die „Meistersinger“. Verwiesen soll auf Goethe werden, der an diesem Ort seine letzte Liebe fand und die „Marienbader Elegien“ schrieb. Wenn man sich die Liste der Badegäste, der Persönlichkeiten, die dort im Böhmischen wirkten und starben, anschaut, dann ist Marienbad eben ein besonderer Ort. Unter den mit diesem Ort durch Geburt verbundenen Persönlichkeiten wird zu Recht Ortwin Michl verzeichnet. Diese Prägung ist nicht zu unterschätzen.
Studiert hat der Maler Ortwin Michl an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg. Er war Meisterschüler bei Professor Ernst Weil, der selbst Meisterschüler bei Willi Geiger war. Weil wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden. Welch eine Filiation. Ernst Weil pflegte eine Darstellungsweise, die sich dem Expressionismus, aber auch dem konstruktiven abstrakten Expressionismus angelehnt hatte. Blicken wir auf das Werk unseres Künstlers, Ortwin Michl, ist verständlich, dass er anfangs sich diesem Lehrer anschloss.
Seine Wahlheimat scheint ihm wahrhaftig und buchstäblich zur Heimat geworden zu sein. Er ist Fürth in besonderer Weise verbunden, was sich in seinem Engagement in der Kunstszene ausdrückt und in den Ehrungen und Auszeichnungen dokumentiert. Michl ist im besten Sinne ein Künstler der Region, der seit 1986 Professor an der Georg-Simon-Ohm Hochschule im Fachbereich der Gestaltung ist.
Mit seinen großformatigen Bildern wie mit seinen Beiträgen im öffentlichen Areal, zu erinnern ist nur an die Ausgestaltung der U-Bahnhöfe, weiß der Künstler seinen Raum zu besetzen. Aus all seinen Werken heraus blickt dem Betrachter der Maler entgegen, der der traditionellen Malerei unabhängig von Zeitströmungen stets frönte und sie für sich weiterentwickelte.
Ich las einmal folgenden Satz: „In der Ästhetik, so stellte Immanuel Kant immer wieder fest, kann es keine Doktrin geben, sondern nur eine Kritik.“ Und in diesem Sinne will ich meine Anmerkungen verstanden wissen. Es ist wunderbar, die Werke Ortwin Michls in ihrer zeitlichen Abfolge der Entstehung zu betrachten. Sie alle kommen sehr abstrahiert, doch nicht abstrakt daher und haben für mich eine starke Affinität zum Informel. Ortwin Michel bedient sich keines speziellen Formates; er setzt das große wie das kleine Format gleichwertig ein. Er nutzt die Ölfarbe, er nutzte die Acrylfarbe. Die meisten Arbeiten haben Titel und führen damit die Gedanken der Betrachter.
Seit 15 Jahren erweitert der Künstler Michl im besten Sinne die Palette mit fremden Materialien und fügt sie mit der Leinwand und der Farbe zusammen. Wenn Picasso und Braques sich häufig der Zeitung bedienten, um in ihren Collagen einen besonderen Farbwert zu erzeugen oder eine Form zu betonen, so geht Ortwin Michl in die dritte Dimension, wenn er Materialfragmente nutzt, um seine Assemblagen fast wie ein modernes Trompe-l’OEil erscheinen zu lassen. Aufmerksam gemacht sei nur auf Arbeiten, die besonders anrühren, nämlich die 2005 entstandene mit 60 X 40 cm sehr intime Arbeit „Gefundene Papiere“ oder die noch trauteren, in einem Format von 40 X 30 und mit verschiedenen Materialien gestalteten, nämlich „Objekt mit Verstrebung“ (2007) oder „Objekt weiß bemalt“ (2006). Besonders eindrucksvoll ist die Arbeit aus dem Jahr 2018 „Schief gelagert“, die, was generell gilt, aus weiter Ferne, also aus dem Zwischengeschoss, betrachtet werden will.
Der Betrachter, so er einmal die Möglichkeit hat, sollte sich drei Arbeiten im Zusammenhang betrachten und sich Zeit zum Einschauen nehmen. Hier ginge das nur im Katalog. Da ist zum einen ein „Kleines Rasenstück“, 1973 datiert, in einer sehr gestischen Malerei – hat Michl bewusst uns zu Dürer hinführen wollen? – da ist zum anderen aus dem Jahr 1986 „Wasserbild – das Meer“ und zum dritten von 2007 „Ballance“. Alle drei scheinen verwandt in der bewussten Spiegelung, dem Vibrieren der Bewegung der Farbwerte und der Wellen. Welch ein Flimmern entwickelt das Abendlicht nach einem Tag voll gleißender Wärme, die Ortwin Michl in seiner Arbeit „Lange Sommertage“ aus dem Jahr 2002 uns auf die Leinwand bannt.
Die „Überlagerung“ oder „Fast unendlich“ beide von 2019 oder „o. T.“ von 2017 erinnern an automatische Vorgänge – an die Ecriture automatique. Die Farbe scheint geschrieben, gewischt oder automatisch hingesetzt. Anders dagegen ein Werk aus dem Jahr 2018, das informell gemalt mit wenig verlaufender Farbe. Wie zart ist das Gelb und das Blau gesetzt, das dem Bild Glanz gibt. Gerade in dieser Technik muss jeder Pinselstrich sitzen; er kann nicht korrigiert werden, weil sonst die vermeintlich spontane Intension verloren geht und der Maler selbst sein Bild zerstört.
Anders dagegen geschieht es bei den Farbflecken, die pastos auf den gemalten, fast monotonen Untergrund aufgegeben werden. Wie bei „Wanderer wohin?“
Mit seinen neueren Bildern wird der Maler immer abstrakter in Form und Aussage. Dennoch ist die Intension des Künstlers zu erkennen, auch wenn der Betrachter den Titel noch nicht verifiziert hat: kugelförmig, fast sich kinetisch im Raum bewegend sehen wir ein Farbknäul genannt „Blauer Planet – Erdkern 1“ oder in Ausschnitten „Blauer Planet – Erdkern 2“, beide von 2018, oder andere Bilder, die wie ein vergrößerter Ausschnitt der Abbildung anmuten wie beispielsweise „Im Rhythmus“ (2017/18). Kinetisch kommen ebenfalls „Fliegendes Objekt“ (2011) oder „Höhenflug“ (2018) daher. Das Zentrum der Arbeiten entsteht durch die vermeintliche Vielschichtigkeit der Farbordnung. Damit schafft es der Maler Ortwin Michl die dritte Dimension vorzutäuschen.
Dazu gehört natürlich die ständige Auseinandersetzung mit dem Himmel und seinen Wolkenformationen. Vor Jahren sah ich eine thematische Ausstellung im Museum Leopold in Wien. Ein Mann, den ich nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Maler verehre, ist Adalbert Stifter. Er hätte seine Freude an den hier gezeigten Wolkenbildern, die aufgrund ihrer veränderten, modernen Auffassung eine Weiterentwicklung bedeuten wie etwa „Großes Wolkenbild“ (2017) oder „Transit 1 – 3“.
Diese Erscheinungen sind bewusst gesetzt und vermitteln dem Betrachter den Prozess der Malerei. Wie konnte man über den Künstler lesen: „Die Eleganz und Leichtigkeit seiner Werke, die auch im Sinne von Matisse den sinnlichen Genuss und das Dekorative nicht desavouieren, verstellen den Blick auf die von ihm verfolgten Bildstrategien.“ So ist festzustellen, dass die Betrachter, nicht die des flüchtigen Blicks, eine konsequente Malerei erfahren, die in ihrer Aussage seine Betrachter im Sinne des Eingangswortes in die Gegenwart führt. Bernd Goldman